Als am Nachmittag des 11. Februar 2011 auf dem Kairoer Tahrir-Platz die Nachricht von der Flucht Hosni Mubaraks eintrifft, brandet ungeheurer Jubel auf. Zigtausende Menschen haben dort drei Wochen gegen den verhassten ägyptischen Präsidenten demonstriert, sich zusammenschlagen lassen, Hunderte Tote beklagt. Ohne zu weichen. Und nun: der Sieg, fürs Erste. Es ist eine „Facebook-Revolution“, die Mubarak vertrieben hat, schreiben die westlichen Medien und viele glauben es. Denn ohne das weltumspannende soziale Netzwerk Facebook und die Vernetzung vor allem junger Dissidenten hätte der Aufstand nie gelingen können. Technik, so scheint es, ist zu einer mächtigen Waffe im Kampf gegen die Despoten der Welt geworden. Ist dies gar die Morgendämmerung einer digitalen Multitude, die der Demokratie weltweit zum Durchbruch verhelfen wird? Das hoffen Optimisten.
Nur vier Wochen später zeigt sich eine andere Seite von Technik: Am 12. März 2011 kommt es im AKW Fukushima Daiichi im Reaktorblock 1 zur teilweisen Kernschmelze. Das gewaltige Seebeben vor der Nordostküste Japans am Vortag und der darauf folgende Tsunami haben das Kraftwerk beschädigt, Sicherheits- und Kühlsysteme fallen aus, der Reaktorkern glüht, Radioaktivität tritt aus und wird vom Wind über den Pazifik davongetragen, während die Verantwortlichen der Betreiberfirma Tepco kaum den Mund aufbekommen. Der Alptraum von Tschernobyl steht plötzlich wieder im Raum, die Unbeherrschbarkeit der Technik. Ist es nicht diese Hybris schweigsamer Technokraten, die am Ende den Planeten ruiniert? Das fürchten Pessimisten.
Die konträren Deutungen der Ereignisse sind beide nicht ganz falsch. Aber sie greifen zu kurz, und darin sind sie durchaus exemplarisch dafür, wie viele Menschen über Technik denken. Während Optimisten die Rolle des Internets für gesellschaftliche Umwälzungen überbewerten und es zur entscheidenden Technologie überhaupt aufblasen, sehen sich Pessimisten von einem Menetekel wie Fukushima darin bestätigt, Technik insgesamt als historische Fehlentwicklung in Frage zu stellen. Beide Positionen ziehen sich auch durch die neuen links-libertären Bewegungen. Das ist bemerkenswert, denn beide enthalten in meinen Augen alte Ressentiments. Sie vernebeln ein differenziertes Verständnis von Technik, auf das ein neues antikapitalistisches Projekt nicht verzichten kann. Mehr noch: aus dem wir eine politische Strategie für eine emanzipatorische Technik entwickeln können, die auch aus sich heraus über den Kapitalismus hinausweist.
Schutt
Zunächst gilt es, etwas Schutt beiseite zu räumen, der das Nachdenken über Technik blockiert. Erster Schutthaufen: das Alltagsdenken. In ihm ist Technik etwas Sekundäres, eine bloße Ausstattung an Werkzeugen, Geräten und Infrastruktur, die wir nicht durchschauen, die das Leben manchmal leichter macht, manchmal vertrackt. Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur sind die Sphären, an denen sich leidenschaftliche Debatten über Selbstbestimmtheit, Gerechtigkeit und Macht entzünden. Technik hingegen überlassen wir den Spezialisten, denen wir allerdings, wenn wir nicht selbst zu ihnen gehören, nicht recht trauen. Dass aber der Anspruch auf demokratische Teilhabe auch für Technik gelten müsste, gehört nicht zu unseren Gemeinplätzen. Doch gerade weil sie so allgegenwärtig ist und unser Leben mit prägt, müsste eine selbstbestimmte Technik eine ziemlich hohe Priorität für politische Strategien haben.
Den zweiten, größeren Schutthaufen haben Generationen von Ingenieuren im Denken abgelegt mit der Behauptung, Technik sei an sich neutral. Gut oder schlecht werde sie erst durch den Anwender. Mit einem Messer kann man Brot schneiden oder jemanden erstechen, Atomkraft kann man für Bomben oder zur Energiegewinnung einsetzen, heißt es dann. So kann nur argumentieren, wer ausschließlich das Artefakt selbst – das Messer, den Behälter mit spaltbarem Uran – betrachtet. Werfen wir einen Blick darauf, in welchem Kontext es hergestellt und genutzt wird, können wir feststellen, dass sich Messer und Uranbehälter erheblich unterscheiden. Das Messer kann von einer einzelnen Person, einem Schmied, hergestellt und von einer einzelnen Person beim Frühstück genutzt werden. Beide Situationen, die Schmiede und die Küche, greifen wenig in das gesellschaftliche Leben ein. Der Uranbehälter hingegen erfordert Kontrollzonen und Sicherheitsorgane, die vom Staat eingerichtet werden müssen, um ihn handhaben zu können. Der Staat muss hierfür einen latent repressiven Charakter annehmen, worauf etwa Robert Jungk und Langdon Winner hingewiesen haben.
Aber auch in den Artefakten selbst steckt mehr, als wir auf den ersten Blick sehen: Annahmen über das Leben, Wertungen. In früheren Jahren war es hierzulande nicht üblich, dass ein Auto sich sofort verriegelt, wenn man es anlässt. Wenn ich heute einen Mietwagen starte, sitze ich sofort im Käfig. In Autos ist ein Sicherheitsdenken aus Ländern eingeflossen, in deren Metropolen Bessergestellte die Türen verriegelten, um nicht von Gangs vor einer roten Ampel aus dem Wagen gezerrt werden zu können. Dieses Sicherheitsdenken manifestiert sich nun auch in Städten, in denen man sein Auto auch unabgeschlossen parken kann. Ein anderes Beispiel sind Bordsteine. Früher enthielten Gehwege an Fußgängerampeln keine abgeschrägten Bordsteine für Rollstuhlfahrer. Im Weltbild der damaligen Verantwortlichen bewegten sich Behinderte nicht im öffentlichen Raum.
Der dritte Schutthaufen ist die Vorstellung, dass Technik im Grunde eine Vergewaltigung der Natur ist. Sie klingt an, wenn etwa Hannah Arendt in Vita activa (1960) schreibt: „Alles Herstellen ist gewalttätig, und Homo faber, der Schöpfer der Welt, kann sein Geschäft nur verrichten, indem er Natur zerstört.“ Arendt stellt dem modernen Homo faber das Animal laborans gegenüber, den agrarischen oder nomadisierenden Menschen, der sich mit den Früchten der Erde und den Erträgen von Tieren begnügt. Polemisch könnte man dagegenhalten, dass schon jedes Lagerfeuer eine Zerstörung des Fleckens ist, auf dem es entzündet wird.
Das Gegensatzpaar Homo faber und Animal laborans hat einen zivilisationsfeindlichen Beiklang, der bereits bei anderen Technik-Philosophen des 20. Jahrhunderts – etwa Martin Heidegger und Jacques Ellul – zu vernehmen war und nun im Anarchoprimitivismus gar zum Schlachtruf wird. Als Kategorien zur politischen Beurteilung von Technik taugen beide Begriffe nicht, weil sie einen Schnitt an der falschen Stelle setzen. Ähnlich wie auch José Ortega y Gasset, der eine Technik „des Zufalls“, „des Handwerkers“ und „des Technikers“ unterschied und damit ein frühere Epochen abwertendes Fortschrittsdenken ausdrückte.
Die Technosphäre
Anders als Arendt sehe ich den Menschen als „zóon technikón“: ein Wesen, das die Welt nach seinen Bedürfnissen umgestaltet. Das tun zwar auch manche Tierarten, doch anders als sie kann der Mensch neue Bedürfnisse entwickeln, ob unsinnig oder nicht, spielt hier erst einmal keine Rolle. Neue Bedürfnisse entspringen auch Dingen, die er zuvor gebaut hat, um ursprünglichere Bedürfnisse zu befriedigen. Diese fortwährende Umgestaltung der Welt durch den Menschen ist für mich die Essenz von Technik, und sie ist, von urzeitlichen Anfängen vielleicht abgesehen, immer auch rekursiv: Sie gibt auch Antworten auf Fragen, die sie selbst erst aufgeworfen hat.
Dieser rekursive Charakter hat Auswirkungen: Technik wird im Laufe der Zeit immer feiner in sich verwoben und unseren Sinnen unzugänglicher. Wie einfache mechanische Geräte funktionieren, können wir im Prinzip noch durch Beobachten herausbekommen. Zu dieser ältesten unmittelbaren Technik gesellt sich irgendwann eine mittelbare Technik, die Chemie, Optik und Elektrizität einsetzt. Wir können sie uns nur noch mit Spezialwissen aneignen, aber immerhin befindet sich das, was sie bewirkt, noch in unserer Reichweite. Die dritte und jüngste Art, die komplexe Technik, geht darüber hinaus: Einerseits wird sie raumgreifend und bildet weitgespannte technische Systeme wie das Internet, den Flugverkehr oder Satellitennetze. Andererseits können viele Geräte überhaupt erst mit Hilfe einer eigenen „Übersetzungsmaschine“ – dem Computer – genutzt werden, der zwischen dem, was im Inneren der Geräte passiert, und der Oberfläche, die wir bedienen, vermittelnd Daten hin und her schiebt. Diese drei Arten von Technik sind allerdings keine Phasen eines historischen Fortschritts. Sie existieren bis heute nebeneinander: der Nussknacker, die Brille, der Flachbildfernseher – je für sich befriedigen sie ein Bedürfnis gut.
Ein vierter Aspekt fehlt allerdings noch, um Technik in der Gegenwart zu verstehen. Mit dem Ausschwärmen des Menschen in alle Winkel der Welt hat sie sich wie eine eigene Schicht um den Planeten gelegt, und so ist im Laufe des 20. Jahrhunderts etwas entstanden, was ich „Technosphäre“ nenne. Sie durchdringt Biosphäre und Geosphäre der Erde, konkurriert mit ihnen. Der Mensch ist nun tatsächlich dabei, die Welt nach seinen echten oder vermeintlichen Bedürfnissen umzugestalten – mittels Nano- und Biotechnik sogar bis hinein in die Bausteine der Materie, der Organismen und seiner selbst. Ebenso wie gewaltige Vulkanausbrüche das Klima weltweit verändern, können eng umgrenzte Ereignisse in der Technosphäre Auswirkungen in weiter Ferne haben: Der Fallout eines atomaren Super-GAUs weht über den Pazifik, ein mutiertes Grippevirus reist in Flugzeugen auf alle Kontinente, der Ausfall eines Umspannwerks führt zu einem kontinentalen Blackout.
Es ist jedoch nicht menschliche Hybris gewesen, die diese Technosphäre hat entstehen lassen, sondern der Kapitalismus. In einer endlosen Rückkopplung ohne Masterplan muss er immer mehr Waren und Dienstleistungen hervorbringen und lässt dabei den rekursiven Charakter von Technik heiß laufen: Technik ermöglicht neue Produkte, die neue Bedürfnisse erzeugen, die mit weiteren Produkten befriedigt werden sollen, für die neue Technik gebraucht wird. Auch und nicht zuletzt seitens des Militärs.
Die Technosphäre ist also der Zwilling des militanten Kapitalismus der vergangenen 200 Jahre. Der Kapitalismus nährt sich von ihr, und so setzt er alles daran, sie dem zu direkten Zugriff der Vielen zu entziehen: als geschlossene Technosphäre. Technisches Know-how wird als „geistiges Eigentum“ unter Strafandrohung der freien Verwendung durch andere, die nicht dafür bezahlen (können), entzogen. Das betrifft vor allem den globalen Süden. Auf dem Mercato in Addis Abeba etwa, dem größten Markt in Ostafrika, ist zwar Technik aller Art erhältlich. Aber was in den unzähligen Buden angeboten wird, ist veraltet oder defekt und weit entfernt von dem, was ein Westler beziehen kann. Weil in diesen Ländern das nötige Kapital fehlt, bleibt vor allem eine Bricolage mit den Restposten der industrialisierten Welt übrig, die weit entfernt von einem selbstbestimmten Umgang mit Technik ist.
Selbst die Umnutzung von Artefakten wird mitunter kriminalisiert, wenn sie nicht der systemkonformen Nutzung entspricht. Davon kann jeder, der mit einer Spraydose in der Hand eine Haus- oder Waggonwand zur Leinwand umfunktioniert, ein Lied singen. Über technische Standards und Konstruktionen werden auch politische Wertvorstellungen in Technologien „codiert“.
Ein perfides Beispiel ist das App-Konzept, das der Computerkonzern Apple für das iPhone entwickelte. Bilder, Texte oder Spiele sind in einer App mit jeweils einem Programm verknüpft und brechen so einerseits mit dem Hypertext-Konzept von Web-Erfinder Tim Berners-Lee, nach dem im Web alle Inhalte gleichberechtigt nebeneinander stehen und sich auch durch den Nutzer miteinander verknüpfen lassen. Andererseits nehmen sie dem Nutzer die Freiheit selbst zu entscheiden, mit welchem Programm er ein Dokument nutzt, und verschließen den Zugang zur Ebene des Betriebssystems. Eine App dagegen stellt einen Behälter dar, aus dem sich der Inhalt nicht mehr herauslösen lässt, um auch digitale Inhalte zu bezahlpflichtigen, kontrollierbaren Waren zu konfektionieren, die nur noch in einer einzigen Art und Weise zu nutzen sind.
Damit ändert auch der Computer seinen Charakter: War der PC ein relativ freies Werkzeug für die Datenverarbeitung durch jeden, ist das Smartphone vor allem ein Gerät zum Konsumieren von Datenanwendungen.
Aneignung
Die geschlossene Technosphäre ist eine wachsende Ansammlung von Blackboxes, die wir nicht durchschauen sollen. Die Frage liegt da nahe: Ist das nicht Wahnsinn? Ist der Zug zu einer menschlichen, selbstbestimmten Technik nicht längst abgefahren? Die Anarchoprimitivisten würden wohl sagen: ja. „Diese Kultur wird sich nicht freiwillig zu einer vernünftigen und nachhaltigen Lebensweise bekehren. Wenn wir ihr kein Ende setzen, wird die Zivilisation weiterhin die große Mehrheit der Menschen in die Verelendung treiben und die Erde ausplündern, bis sie … zusammenbricht“, schreibt Derrick Jensen, Autor des verstörenden Pamphlets Endgame (2006). Eine bizarre Logik, denn die Zerstörung der technisierten Zivilisation, wie sie Jensen propagiert, dürfte das prognostizierte Elend für Milliarden Menschen eher noch vorziehen. Auch im globalen Süden sind längst mehr Menschen in die Prozesse der Technosphäre eingebunden, als sich mancher Westler das vorstellt.
Ich erwähne die Anarchoprimitivisten hier nicht, um einen Strohmann aufzubauen, auf den ich dann eindreschen kann. Sie sind deshalb einer Auseinandersetzung wert, weil ihre Ideen in den neuen links-libertären Bewegungen, vor allem in den angelsächsischen Ländern, nicht unpopulär sind, wie auch Uri Gordon in Hier und Jetzt (2010) schreibt. Das Unsichtbare Komitee ist da weiter, wenn es in Der kommende Aufstand (2010) feststellt, dass die Aufständischen mit Plündern – als eine Form des Angriffs auf die kapitalistische Zivilisation – allein nicht lange in den Stadtlandschaften durchhalten können, wenn sie nicht auch das Kultivieren und Fabrizieren organisieren. „Nichts wäre logischer, als dass die Drehbänke, Fräsmaschinen und Fotokopierer, die bei der Schließung einer Fabrik verramscht werden, im Gegenzug dazu dienten, eine Verschwörung gegen die Warengesellschaft zu unterstützen.“
Richtig: Wir müssen uns die Technik, auch in ihrer Gestalt als Technosphäre, aneignen und vom Kapitalismus ablösen – und können umgekehrt durch ihre Aneignung sogar dazu beitragen, den Kapitalismus auszuhöhlen. Wir können diese Aneignung forcieren, wenn wir ein analytisches Werkzeug finden, das uns den systematischen Zugang zur Technik so erweitert, dass sich daraus neue, konkrete Handlungsmöglichkeiten ergeben. Ein solches Werkzeug hat Günter Ropohl in seiner Systemtheorie der Technik (1979) bereitgestellt: Es sind fünf verschiedene Arten technischen Wissens. Gehen wir sie der Reihe nach durch.
Da ist, erstens und historisch am ältesten, das technische Können: ein über längere Zeit erworbenes Erfahrungswissen, ohne dass wir kein Musikinstrument spielen, kein Eisenstück zurechtfeilen, kein Stück Holz bearbeiten könnten. Technisches Können zeichnet das klassische Handwerk aus, und es ist mitnichten eine „simple“ oder altmodische Art von Know-how.
Für die Gegenwart typischer ist das funktionale Regelwissen: Es befähigt uns, Geräte zu bedienen, bestimmte Funktionen in Gang zu setzen. Wir wissen zum Beispiel, welchen Knopf wir drücken müssen, um den CD-Player oder die Kaffeemaschine zu starten. Das Gerät selbst bleibt aber eine Blackbox. Was der Knopfdruck im Gerät auslöst, damit die Musik den Raum erfüllt oder der Kaffee in die Tasse rinnt, wissen wir noch nicht.
Es sei denn, wir hätten ein strukturales Regelwissen. Dann könnten wir bestimmte Bauteile benennen und auch identifizieren, wenn wir die Blackbox Kaffeemaschine öffneten. Ja, wir wären vielleicht in der Lage, selbst eine Kaffeemaschine zu bauen, wenn wir alle Bauteile beisammen hätten, etwa aus einem Selbstbausatz.
Aber erst mit technologischem Gesetzeswissen können wir eine Kaffeemaschine selbst konstruieren. Ihrem Gehäuse eine Form geben, den richtigen Heizwiderstand auswählen, die elektrische Verschaltung planen, eine Wasserpumpe an der richtigen Stelle einbauen. Vor allem: ein Gerät bauen, das unseren eigenen Bedürfnissen dient.
Schließlich gibt es noch das soziotechnische Systemwissen, das über die Apparate hinausweist: Mit ihm können wir verstehen, in welchen gesellschaftlichen Zusammenhang Geräte, Maschinen, technische Systeme eingebettet sind, wie Industriestandards gesetzt werden und wem sie nützen, oder welche Wertvorstellungen in technischen Konstruktionen stillschweigend codiert sind. Wenn über Datenschnüffeleien von Facebook und anderen Online-Unternehmen, die gentechnischen Machenschaften von Agrochemie-Konzernen oder die Zumutungen der Atomenergie gestritten wird, geschieht dies aus soziotechnischem Systemwissen heraus.
Um es noch einmal einfacher auszudrücken: Technisches Können ist die Domäne der Handwerker, funktionales Regelwissen die der Verbraucher – der meisten von uns –, strukturales Regelwissen die der Bastler, technologisches Gesetzeswissen die der Ingenieure, soziotechnisches Systemwissen die der Technokraten und ihrer Gegenspieler, der technischen Watchdogs. Um die Blackboxes zu knacken, eine nicht warenförmige Technik für uns durch uns zu schaffen, müssen wir uns gemeinsam, systematisch und massenhaft die letzten drei Arten von technischem Wissen aneignen. Das ist eine gewaltige Aufgabe, aber nicht unmöglich. Denn diese Aneignung hat bereits in Ansätzen begonnen.
Fabrikation
Am sichtbarsten ist sie heute in der Freien Software, häufig auch als Open Source Software bezeichnet, weil der Programmcode frei zugänglich ist. Jeder darf ihn verwenden, nach Belieben weiterentwickeln und weiterverschenken. Ein großer Teil der Softwarebasis des Internets läuft mit solchen Programmen: Apache als Server, mySQL als Datenbank, Mozilla Firefox als Web-Browser, um nur die wichtigsten zu nennen. Als Computerbetriebssystem steht GNU/Linux zur Verfügung, für eigene Online-Medien gibt es Programme wie WordPress und Drupal.
Dass diese Aneignung in der Software am weitesten fortgeschritten ist, hat einen einfachen Grund: Ihr Produktionsmittel, der PC, ist kompakt und relativ billig; das Werkzeug zu ihrer Herstellung, diverse Programmiersprachen, gut dokumentiert und für jeden zugänglich; und die Verbreitung über das Internet enorm schnell und weltumspannend. Das ist durchaus beeindruckend, aber wir sollten uns nicht blenden lassen: Die Hardware selbst und die Netze der computerisierten Welt sind noch nicht offen, sondern durch Patente, aber auch durch schiere Produktionskosten einer Aneignung entzogen. Eine Strategie der „offenen Technosphäre“ muss aber gerade auch die Welt der physischen Dinge, der Hardware umfassen. Und sie darf nicht bei Computern stehen bleiben: auch Autos, Produktionsmaschinen, Anlagen zur Energieerzeugung und zahllose andere Apparate gehören dazu.
Genau das versucht inzwischen eine Graswurzelbewegung, die sich die Maschinen vorgeknöpft hat. Die „Open Hardware“-Szene arbeitet an so unterschiedlichen Dingen wie Landwirtschaftsmaschinen, Autos, Smartphones, elektronischen Controller-Boards, Platinenfräsen und 3D-Druckern, ja im Fall des Freifunks sogar an einem eigenen, offenen Datennetz. Die Konstruktionen werden online dokumentiert, so dass im Prinzip jeder das entsprechende Gerät selbst bauen kann. Nehmen wir als Beispiel den 3D-Drucker „Mendel“, der an der University of Bath in England von Adrian Bowyer und seiner Gruppe entwickelt wurde. Es besteht aus einem Rahmen, an dem Elektromotoren befestigt sind.
Über Keilriemen bewegen sie entlang der drei Raumachsen eine Düse, in der ein Plastikdraht aufgeschmolzen wird. Das geschmolzene Plastik wird Schicht für Schicht auf einer Plattform abgelegt, und die Schichten formen sich ganz langsam zu einem Gegenstand, der zuvor nur als 3D-Computermodell existierte. Die Steuereinheit (Controller), die die Daten für jede einzelne Schicht aus dem Rechner empfängt und Elektromotoren und Temperaturregelung der Düse steuert, ist selbst eine offene Hardware, der in Italien entwickelte „Arduino“. Der Witz: Die Verbindungsteile aus Plastik, die Rahmengestänge, Achsen, Motoren und Düse zusammenhalten, können schon mit dem Mendel selbst ausgedruckt werden, um sie an jemanden zu verschenken, der sie wiederum als Bauteile für seinen 3D-Drucker nimmt. Das Gerät lässt sich problemlos innerhalb eines Wochenendes zusammenbauen und leistet im Kleinen, was zuvor nur industrielle Extrusionsmaschinen konnten: Kunststoffobjekte herstellen (auch wenn sie bisher nicht sehr groß sind).
Mit funktionalem Regelwissen kann man einen Mendel bedienen, mit strukturalem Regelwissen ihn aus einem Bausatz montieren, mit technologischem Gesetzeswissen en détail verstehen und weiterentwickeln. Alle drei Arten des technischen Wissens sind für jeden zugänglich. Der Mendel ist das Gegenteil einer Blackbox. Fairerweise muss man sagen, dass das soziotechnische Systemwissen zum 3D-Druck noch unterentwickelt ist: Ist es überhaupt eine gute Idee, Plastik jetzt auch noch lokal zu verarbeiten? Wo kommt das Plastik denn her? Wie viel Abfall entsteht dabei? Der Mendel zeigt aber zumindest exemplarisch, worum es geht: mit anderen Wissen teilen, Dinge selbst bauen und verschenken. Sowohl das Gerät selbst als auch das, was aus ihm herauskommt, sind nicht zwangsläufig Waren, sondern zuerst „Fabrikate“ für den je eigenen Bedarf. Statt einer Produktion im Sinne der Warengesellschaft haben wir es mit einer (embryonalen) Fabrikation zu tun, deren technische Grundlage allen gehört.
Kunst
Wenn ein paar Enthusiasten für sich allein in Hinterzimmern offene Hardware zusammenbauen, ist das allerdings nur eine weitere Spielart von Tüftelei, die es immer gegeben hat. Die Fabrikation braucht auch einen gesellschaftlichen Zusammenhang. Auch der formiert sich langsam: in einer neuen Form offener Werkstätten, wie sie bereits in den Siebziger- und Achtzigerjahren einmal populär waren. Mit dem Unterschied, dass es nun darum geht, auch industrielle Fertigungstechniken und computergesteuerte Maschinen im kleinen Maßstab Stadtvierteln zugänglich zu machen. Mehr noch: diese Werkstätten auch international miteinander zu verknüpfen. Der interessanteste Ansatz hierbei ist das „Fab Lab“, kurz für Fabrication Laboratory, hervorgegangen aus einem Universitätskurs von Neil Gershenfeld am Massachusetts Institute of Technology, das sonst eher als Elite-Universität und Ideenschmiede für den militärisch-industriellen Komplex der USA bekannt ist.
Gershenfelds Idee ist zum einen, die industrielle Fertigungstechnik zu demokratisieren. So wie der PC die Verarbeitung von Information von Industrierechnern in die Wohnungen holte, soll das Fab Lab eine anspruchsvolle Verarbeitung von Materie samt Elektroniksteuerung aus den Fabriken befreien. Gerade auch in den Ländern des globalen Südens, in denen neue Technologien oft nur in Fabriken für den Export zur Verfügung stehen. Die ersten Fab Labs außerhalb Bostons entstanden deshalb in Ghana, Indien, Südafrika und Costa Rica. Heute gibt es über 60 auf vier Kontinenten, die miteinander verbunden sind. Was in ihnen fabriziert wird, ist nicht zuerst für einen Markt gedacht, sondern entspringt den Bedürfnissen der Akteure am jeweiligen Ort. Das können praktische Dinge sein: Das Fab Lab in Ghana zum Beispiel stellt aus den Resten nördlicher Solarfabriken Solarzellen für Dörfer her, während in europäischen Fab Labs eher Dinge entstehen, die versponnen bis künstlerisch sind.
Das ist allerdings kein Widerspruch. Denn Gershenfelds anderer Grundgedanke ist, eine historische Fehlentwicklung zu korrigieren: die Aufspaltung des schöpferischen Tuns in die artes liberales (Grammatik, Rhetorik, Logik, Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie) und die artes illiberales, zu denen Baukunst, Landwirtschaft und Handwerke zählten. Erstere wurden im Spätmittelalter aufgewertet und zur Grundlage für das, was wir heute Kopfarbeit nennen, während letztere in der aufkeimenden bürgerlichen Gesellschaft an Ansehen verloren.
Diese Spaltung wirkt nach, wenn in den Industriegesellschaften die tragende Rolle des „Wissensarbeiters“ und das Internet als geradezu heilbringende Technologie beschworen werden. In der neuen Aneignung von Technik als Fabrikation können beide Sphären wieder zusammenfallen. Technik wird zur „techné“ zurückgeführt, die im antiken Griechenland als Begriff handwerkliche – „technische“ – Fähigkeiten und Kunst in sich vereinte. Die neue techné allerdings wäre eher eine „Antikunst“ im Sinne von Joseph Beuys, der sie als den Punkt verstand, „an dem der Mensch sich als ein freischöpferisches Wesen erkennt, indem er sich erkennt, dass er nicht ein Abhängiger ist im gesellschaftlichen Getriebe.“
Die hier skizzierte Strategie bietet eine Möglichkeit, die Technosphäre von unten zu öffnen: im konkreten Handeln der Vielen. Rip, Mix & Fabricate: Konstruktionen offen legen, das Wissen darüber teilen, die sinnvollen Ideen auswählen und zu neuen verbinden, damit selbstbestimmt fabrizieren. Das bedeutet nicht, dass jeder zum Technikexperten werden muss. Es geht vielmehr darum, gemeinsam Vertrauen, Verantwortlichkeit und Transparenz in die Welt der Dinge zurückzubringen. Rip, Mix & Fabrikate ist vielleicht ein bescheidener Anfang, aber einer, den wir selbst in der Hand haben. Für mich ist es auch eine sehr praktische Form des Exodus, wie ihn Negri und Hardt in Empire (2000) propagiert haben. Hingegen Technik als Verschwörung des Kapitals oder Ausgeburt menschlicher Gewalttätigkeit zu begreifen und deshalb abzublocken, überlässt die Umgestaltung der Welt weiterhin den Technokraten. Die übernehmen wir besser selbst.
Dieser Text ist im August 2012 in „Anarchistische Welten“ (Edition Nautilus, hrsg. von Ilija Trojanow) und als Vorabdruck in der Zeitschrift Wespennest erschienen.